Das Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) wird zurzeit stark kritisiert. Doch das Problem sei nicht das ISOS selber, sondern dessen Direktanwendung, sagt David Belart, Head Development und ESG bei Avobis. Eine etwas differenziertere Sicht würde helfen. Entscheidend sei nicht, welcher Anteil des Siedlungsgebiets inventarisiert ist, sondern welche Erhaltungsziele bei den einzelnen Teilflächen hinterlegt sind.
Ortsbildschutz auf Abwegen: Was läuft falsch, wenn 75 Prozent der Stadt Zürich im Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz ISOS erfasst sind?
David Belart: Da läuft eigentlich nichts falsch. Das ISOS ist ein Inventar, welches rund 1’200 Ortsbilder von nationaler Bedeutung dokumentiert. Von den rund 6’000 Ortsbildern der Schweiz sind also rund 20% inventarisiert, was mir ein sinnvolles Mass scheint. Das Inventar betrachtet ein Ortsbild immer flächendeckend und unterteilt das Siedlungsgebiet dann in Gebiete mit unterschiedlichen Erhaltungszielen. So ist es weder erstaunlich noch dramatisch, wenn 75% des Siedlungsgebiets einer Gemeinde im ISOS als «schützenswertes» Gebiet vermerkt sind. Entscheidend ist nicht, welcher Anteil des Siedlungsgebiets inventarisiert ist, sondern welche Erhaltungsziele bei den einzelnen Teilflächen hinterlegt sind. Diese Erhaltungsziele können von A (Erhalten der Substanz) über B (Erhalten der Struktur) bis C (Erhalten des Charakters) variieren und sie korrespondieren typischerweise mit den bereits vorhandenen Planungsinstrumenten wie dem kommunalen Baugesetz oder dem Denkmalschutz-Inventar. Es ist also beispielsweise selten der Fall, dass ein Gebiet mit Erhaltungsziel A nicht ohnehin eine Kernzone mit den entsprechenden Auflagen ist. In der Stadt Zürich ist das Erhaltungsziel A bei lediglich 11% des Gebiets der Fall. Ausserdem bedeuten diese Erhaltungsziele nicht, dass ein Gebiet per se unter Schutz gestellt ist, sondern lediglich, dass dieses schützenswert ist. Das Problem liegt also nicht auf der materiellen Ebene, sondern darin, dass eine verfahrenstechnische Verknüpfung in Form der Direktanwendung geschaffen wurde. Diese sollte aufgehoben resp. angepasst werden, wie es z.B. von der Stadt Zürich gefordert wurde.
Was bedeutet denn diese «Direktanwendung»?
Die Direktanwendung des ISOS erfolgt immer dann, wenn ein Projekt in einem ISOS-Gebiet liegt und gleichzeitig mindestens eine Bundesaufgabe betroffen ist. Solche Bundesaufgaben können beispielsweise der Grundwasserschutz sein, oder Schutzräume, Photovoltaikanlagen und Mobilfunkantennen; also Themen, die nicht immer einen materiellen Zusammenhang mit dem ISOS haben. Die Stadt Zürich fordert von Bund und Kantonen, dass die Direktanwendung des ISOS in Zukunft nur dann erfolgen soll, wenn ein materieller Zusammenhang besteht.
Wie wird zwischen erhaltenswert und schützenswert unterschieden?
Diese beiden Begriffe sind von der Bedeutung sehr nahe zusammen und können auch synonym sein. Sie werden auch nicht immer auf der gleichen Ebene angewendet (schützenswert eher auf Stufe Ortsbild; erhaltenswert eher auf Stufe Ortsbildteil, Gebiet, Zone oder Einzelobjekt). Deshalb wäre wohl eher die Frage nach dem Unterschied zwischen «erhaltenswert» und «unter Schutz gestellt» interessant. Dabei ist wichtig zu wissen, dass das ISOS nichts unter Schutz stellt; es hält lediglich fest, was erhaltens- oder schützenswert ist und dementsprechend möglicherweise unter Schutz gestellt werden müsste. Das ISOS ist kein rechtswirksames Planungsinstrument, sondern ein Inventar, das bei der Interessensabwägung berücksichtigt werden sollte.
Die Direktanwendung des ISOS hilft spitzfindigen Juristen, Bauten zu verhindern. Was können Juristen, die das Bauen ermöglichen wollen, dagegen tun?
Das Beste ist immer eine sorgfältige Vorbereitung und eine offene Kommunikation zum richtigen Zeitpunkt mit den relevanten Stakeholdern. Leider kommen Juristen häufig erst dann ins Spiel, wenn die Fronten schon verhärtet sind. Zielführende Wege und Methoden sind sicher im Bereich der Mediation zu finden oder in der Vorbereitung mit entsprechend praktikablen Vertragswerken. Was vermutlich eher ein frommer Wunsch bleibt, ist die Hoffnung, dass Juristen ihre Klienten vom Rekurrieren abhalten, wenn die Erfolgschancen gering sind und lediglich eine Verzögerung resultieren würde.
Das ISOS wird von Experten erarbeitet. Diesem Gremium wird vorgeworfen, die Demokratie auszuhebeln, da es keine Volksbeteiligung bei Entscheidungen gibt. Sollten die Gemeinde- und Kantonsparlamente mitreden können?
Wie bereits erwähnt, ist das ISOS einfach ein Inventar, also kein Gesetz und auch kein Gremium.
Grundsätzlich ist es aus meiner Sicht korrekt, dass das ISOS von Experten erarbeitet wird und keiner demokratischen Legitimation bedarf. Wir stimmen beispielsweise auch nicht über den Fassadenabstand von nicht brennbaren Oberflächen ab und darüber, welche Materialien jetzt genau nicht brennbar sind. Das sind Fragen für Experten. Demokratisch legitimiert sind die zugrundliegenden Gesetze und Verordnungen und nicht die fachlich-technischen Details. Analog ist es beim Ortsbildschutz, der sich primär auf die Bundesverfassung und das Natur- und Heimatschutzgesetz stützt. Kantonale und kommunale Parlamente haben dieses übergeordnete Recht in ihren Planungen, konkret in den Richt- und den Zonenplänen, zu berücksichtigen. Dass dies in den meisten Fällen reibungslos geschieht, zeigt die obenerwähnte Tatsache, dass z.B. Gebiete mit Erhaltungsziel A zumeist Kern- oder Quartiererhaltungszonen und die gemäss ISOS schützenswerten Objekte i.d.R. auch im Denkmalschutzinventar verzeichnet sind. Die problematischen «Symptome» (Direktanwendung, Auswirkungen auf benachbarte Areale) sind kaum durch «mehr Demokratie» behandelbar, sondern durch eine einfachere Handhabung von politischen und formaljuristischen Prozessen.
Die Situation in der Stadt Zürich wurde auch als «ISOS-Gau» und als ein Lehrbeispiel dafür bezeichnet, wie sich hehre Ziele verselbständigen können und schlussendlich in der Praxis massive Auswirkungen zeitigen. Fehlt der Mut zu städtebaulichen Entwürfen, die Alt und Neu modern interpretieren können?
Ich denke kaum, dass der Mut bei Bauträgern und Planenden fehlt; es hängt aber schon eine Art Damoklesschwert über vielen Projekten, dessen Faden von Regulierungsdichte und Einsprachewut schnell durchtrennt werden kann.
Zum Beispiel im Brunaupark?
Am Beispiel der benachbarten Areale Brunaupark und Laubegg-Siedlung in Zürich-Wiedikon wird allerdings deutlich, dass das Erhaltungsziels eines Gebiets sich nach der Interpretation von potenziellen Rekurrenten nicht nur auf den betroffenen Perimeter selber – in diesem Falle auf die Laubegg-Siedlung, wo das ISOS und das Denkmalschutz-Inventar kongruent sind – sondern auch auf benachbarte Areale – hier auf die neue Überbauung Brunaupark – auswirken kann. Das geht aus meiner Sicht zu weit und widerspricht dem Prinzip der Rechtssicherheit für die planenden Grundeigentümer.
Hätte dies verhindert werden können?
Das Beispiel Brunaupark zeigt, wie mittels Fehlinterpretation des ISOS und mangels gesunden Menschenverstandes das Schwert zum Fallen gebracht wurde. Schwer zu sagen, wie dies antizipiert oder verhindert hätte werden können; wohl kaum auf der architektonisch-städtebaulichen Ebene, wo ein sehr überzeugendes Projekt entstanden ist, und auch nicht grundsätzlich auf der prozessualen Ebene, welche ein breit abgestütztes Verfahren beinhaltete. Der Teufel dürfte auch hier irgendwo in den Details liegen, sei es im kommunikativen oder zwischenmenschlichen Bereich. Das ISOS selber ist jedenfalls kein Hindernis für eine mutige und qualitätsvolle Siedlungsentwicklung nach innen; im Gegenteil bildet es sogar eine wichtige Voraussetzung für ein besseres Verständnis unserer Siedlungen und deren Weiterentwicklung.
Interview erschienen im RealEstateReport, Ausgabe 54 vom 18. November 2024
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